Die Renaissance des Schweren Warmbluts
Mehr als 150 Jahre lang waren möglichst großrahmige, knochenstarke und rumpftiefe Pferde die wertvollsten Vertreter ihrer Art. Für entsprechende Karossiers im Gespanndienst und die sogenannten Kürasier-Pferde der berittenen Militäreinheiten wurde gerne ein 20 % höherer Kaufpreis gezahlt als für kleinere und leichtere Produkte.
Diese eiserne Regel änderte sich erst ab Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als die massive Umzüchtung der Warmblutrassen zum ausschließlichen Reitpferdezweck einsetzte. Auch die Zuchtgebiete, die erfolgreich Kaliberpferde für den Dienst im Gespann geliefert hatten, änderten ihr Zuchtziel in diese Richtung: Hannover, Holstein, Westfalen und sogar die Hochburg Oldenburg.
Letzteres war über ein Jahrhundert der Inbegriff des Kaliberpferdes und hatte auf viele andere Nachzuchtgebiete von Ostfriesland bis Schlesien ausgestrahlt. Ostfriesland, genetisch auf Oldenburg basierend, bot dem allgemeinen Trend noch für einige Jahre Paroli. Jedenfalls solange, bis Anfang der siebziger Jahre die Kapitulation erfolgte, in Form eines Anschlusses an den Hannoveraner-Verband. Sogar die ostfriesischen Staatsprämienstuten galten als altmodisch und mussten mit einem Platz im hannoverschen Vorbuch vorliebnehmen.
Gallisches Dorf Moritzburg
Wie ein kleines rebellisches Gallier-Dorf wirkte da das sächsische Hengstdepot Moritzburg und die Züchter in seiner Umgebung. Dort hielt man unverbrüchlich an den Zuchtprinzipien des alten Oldenburgers fest: Exterieurkorrektheit, Knochenstärke, gehörige Rumpftiefe, viel Halsaufsatz und Bewegungen mit viel Aktion blieben unverändert die Selektionskriterien, vor allem aber ein unerschütterliches Temperament und harte Konstitution, auch zu übersetzen mit Unempfindlichkeit.
Systematische Veredelung durch Vollblüter, Araber, Trakehner oder französische Anglo-Normannen lehnte man kategorisch ab. Die kleine Population (1970 ca. 2.250 Stuten in Sachsen und Thüringen) mit erstaunlicher Homogenität und einer schon sprichwörtlichen Temperamentsruhe festigte eine für heutige Warmblutrassen einmalige Einheitlichkeit, nahezu ohne Vorkommen der Fuchsfarbe.
Ende der Schweren Warmblutzucht – Fortbestand im Verborgenen
Doch auch diese letzte Insel des alten Oldenburger Karossiers drohte geflutet zu werden, als die DDR-Planwirtschaft 1971 entschied, dass Schweres Warmblut nicht mehr gebraucht würde und demgemäß aus den staatlichen Zuchteinrichtungen entfernt werden sollte.
Die Hengste wurden 1973 kurzerhand formal abgekört. Die noch knapp 2.000 Stuten umfassende Population wurde überwiegend edlen Reitpferdehengsten, Vollblütern oder Arabern zugeführt. Dies betraf insbesondere die Pferdezuchtdirektion Süd in Moritzburg, an deren Spitze zu dieser Zeit Gestütsleiterin Dr. Herta Steiner stand.
Initiative zivilen Ungehorsams
In einer bemerkenswerten Initiative zivilen Ungehorsams sorgte die resolute Gestütsleiterin dafür, dass die Schweren Warmbluthengste aus Moritzburg formell als Arbeitspferde und als „Bedarfspferde für die Reit- und Fahrtouristik“ deklariert oder bei befreundeten Züchtern untergebracht wurden. Auf ganz kleiner Flamme mit rund 200 Stuten und zehn Hengsten wurde diese fast archaisch anmutende Rasse des alten, unveredelten, klassischen Warmblüters konserviert. Während in allen anderen deutschen Zuchtgebieten mit Macht die Umzüchtung vom Wirtschaftspferd zum Reitpferd einsetzte.
Nachfrage nach nervenstarken Pferden
Niemand konnte ahnen, dass die Schweren jemals wieder ernsthaft gebraucht werden könnten. Noch vor dem Ende der DDR stellten die Exportplaner des real existierenden Sozialismus jedoch fest, dass im Westen durch die rasante Wiederbelebung des Fahrsports neue Nachfrage nach nervenstarken, ausdrucksvollen Fahrpferden spürbar wurde.
Schwere Warmblüter für das berittene Garderegiment der Königin von England
Die Zucht des Schweren Warmbluts sollte demgemäß wieder aufgenommen werden. Mit einer Stutengrundlage, deren jüngste Stuten 13 Jahre und älter waren. 1981 fand wieder eine Körung für Schwere Warmbluthengste statt, 1987 wurde bei der Zentralen DDR-Eliteschau in Magdeburg erstmals wieder eine Klasse Schwerer Warmblutstuten mit sechs jungen, drei- und vierjährigen Stuten vorgestellt. Im gleichen Jahr unterstrich der Verkauf von 14 Schweren Warmblut-Rappen an die Royal Household Cavalry in London, das berittene Garderegiment der Königin von England, die Richtigkeit dieser Entscheidung und brachte wichtige Devisen in die löcherige Staatskasse der DDR.
Bundesverdienstkreuz für Dr. Steiner
1990 gab es bereits wieder 20 Schwere Warmbluthengste im Landgestüt Moritzburg, sowie 360 Zuchtstuten in Sachsen und 160 in Thüringen. Heute hat die Stutenpopulation die magische 1000er Grenze überschritten, gilt aber nach den Kriterien den UN-Landwirtschaftsorganisation FAO immer noch formal als gefährde Rasse. Für ihr Engagement und ihre Weitsicht erhielt Dr. Herta Steiner am 17. Mai 1999 von Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz.
Hengstlegende Eros
Unter den Vatertieren, die dank rassetypischer Langlebigkeit und Vitalität bei der Reaktivierung der Zucht zur Verfügung standen, nahm der 1962 in Oldenburg geborene und 1964 angekaufte Rappe Eros von Elegant – Cäsar den Status einer Legende ein.
Imposante Erscheinung und kraftvoller Gang zeichneten den Hengst und seine Nachkommen aus. Sein Sohn Elton, ebenfalls Moritzburger Landbeschäler und Stempelhengst, wurde vom Dresdner Bildhauer Walter Hilpert, der unter anderem auch den Paradox für Warendorf, Landgraf für Elmshorn, Caprimond für Medingen und Donnerhall für Vechta geschaffen hat, als lebensgroße Statue in kadenziertem Trab modelliert. Die Bronze steht heute im Innenhof des Sächsischen Landgestüts Moritzburg. Das Tischmodell ist der Siegerpreis beim BundesChampionat des Schweren Warmbluts.
Übrigens: Der Vater des oben erwähnten, Eros-Großvaters Cäsar, war der aus Frankreich nach Oldenburg importierte Anglo-Normanne Condor von Foudroyant II xx, der auch auf der Mutterseite des ebenfalls aus altem Oldenbuger Stamm gezogenen Weltvererbers Donnerhall erscheint, der als einer der größten Dressurheroen der letzten zwanzig Jahre gilt. Die letzte Edelblutzufuhr für das Schwere Warmblut erfolgte 1965 mit dem Ankauf des nur 155 cm großen, schwarzbraunen Oldenburger Halbbluthengstes Ventus von Velten xx – Orient, der eine bis heute florierende und im Leistungsfahrsport sehr bewährte Hengstlinie gründen konnte. Immerhin entstammt der aktuelle Moritzburger Körungssieger 2013, Veritabel von Veritas – Ellington (Z.: Gestüt Noschkowitz, Großweitzschen/Sachsen) genau dieser Linie.
Mit Einzelgenehmigungen versuchen auch heute noch einige wenige Züchter sporadisch mit Vollbluteinkreuzungen neue züchterische Impulse zu setzen oder zumindest interessante Gebrauchspferde zu züchten. Von einer echten Strategie ist ein solches punktuelles Durchbrechen des Reinzuchtprinzips aber weit entfernt.
Neuer Aufschwung nach der Wende
Die Nachfrage nach Schwerem Warmblut vervielfachte sich nach dem Fall der Mauer 1989, als Heerscharen von westdeutschen Fahrsportlern in Sachsen und Thüringen auf die Suche gingen nach guten und zugleich preiswerten Fahrpferden.
In den fast 25 Jahren seit der Wiedervereinigung hat die Rassegruppe Schweres Warmblut eine nicht nur zahlenmäßige, sondern auch qualitative Verbreiterung gefunden, die 1989 niemand hätte voraussagen wollen. Dass dies aus einer denkbar kleinen Population ohne Inzuchtdefekte funktionierte, war die eigentliche Meisterleistung von Dr. Herta Steiner und ihrem Schüler und Nachfolger, Landstallmeister Dr. Matthias Görbert.
Der recht hohe Inzuchtgrad bei gleichzeitig hohem Niveau in Exterieur und Leistung erweist sich als Crux: genetisch ähnliche oder zumindest verträgliche Populationen zur Blutauffrischung stehen kaum zur Verfügung. Das Ursprungszuchtgebiet Oldenburg/Ostfriesland hat inzwischen zwar auch die Reste seiner alten, weitgehend unveredelten oder „rück-gezüchteten“ Population zusammengefasst, wird aber typmäßig kaum als Alternative wahrgenommen.
Schwere Warmblutzucht in Schlesien
In Betracht kommt eher das ehemalige preußische Zuchtgebiet Schlesien, heute in Polen gelegen, das nach wie über eine florierende Schwere Warmblutzucht auf Oldenburger Basis verfügt, den Slaski Polska. Herausragender Vertreter im internationalen Fahrsport ist der auch züchterisch stark genutzte Hengst Lokan von Largis, Landbeschäler im Stado Ksiaz (ehem. Fürstenstein/Schlesien), der mit Gestütsfahrer Bartholomiej Kwiatek zahlreiche internationale Erfolge erringen konnte.
Exterieur und Farbe
Vorwiegend im Fahrsport, durchaus aber auch im Freizeitreitsport finden die im wesentlichen braunen und vor allem dunkelbraunen, teilweise – und besonders begehrt – die rapp-schwarzen „Schweren“ Verwendung. Im Vergleich zu ihren veredelten Vettern und Cousinen sind sie eher kurzbeinig, mitunter etwas kurz und steil in der Fessel. In Folge ihrer rassetypischen Leichtfutterigkeit wirken sie gerne auch etwas rundlich.
Ein Röhrbeinumfang von 24 cm ist keine Seltenheit. Die Schulterpartie der Schweren ist im Vergleich zu den Reitpferderassen tendenziell kürzer und weniger schräg, der Widerrist weniger markant ausgeprägt, häufig eher rund: Auswirkung des signifikant geringeren Vollblutanteils. Dies, verbunden mit dem höher liegenden Vorderfußwurzelgelenk, bewirkt in der Bewegung einen kadenzierten, höheren Gang („Knieaktion“). „Aktionsbetonte Trabbewegung“ heißt das in der Sprache der Zuchtzielbeschreibung.
Pferde mit robuster Gesundheit
Gesundheitlich sind die Schweren Warmblüter erfahrungsgemäß robust. Atemwegsprobleme gibt es selten, Lahmheit kaum. Sprichwörtlich ist auch der gute Magen, also ein Verdauungssystem, dass auf Schwankungen in der Fütterung deutlich toleranter reagiert. Möglicherweise auch eine Folge der Stress-Resistenz dieser Rasse.
Sicherlich nur „Sekundärtugenden“, aber bei den heutigen Haltungsbedingungen für Pferde, die immer seltener von erfahrenen Pferdeleuten bestimmt werden, ist eine solche Robustheit durchaus ein wirtschaftlicher Faktor.
Reinzucht ohne Vollblut-Veredelung
Das, was man in der Reitpferdezucht einen „schweren Kopf“ nennen würde, ist bei den Schweren als passendes Accessoire durchaus akzeptiert. Ihre innere Ruhe ist keinesfalls gleichzusetzten mit fehlender Gehfreude, wie der moderne vielseitige Fahrsport hinlänglich beweist.
Die Schweren, allen voran Christoph Diekers FST Elmor von Eschenbach (Züchter: Agrargenossenschaft Am Ohmberg, Bischofferode/Thür.), immerhin Doppel-Weltmeister der Einspännerfahrer, glänzen durch Ausdauer und schnelle Hinderniszeiten. Wie ist das möglich, fragen sich viele Züchter, die Schnelligkeit immer mit hohem Vollblutanteil in Verbindung sehen.
Schnelligkeit und Nervenstärke
Bei Reitpferden, die Schnelligkeit auf langen Linien zeigen sollen, mag das sogar stimmen. Bei Fahrpferden aber, die eine Zuglast nach engen Wendungen in den Geländehindernissen möglichst rasch wieder beschleunigen müssen, hat die Physik andere Antworten. Der niedrige Schwerpunkt sichert hier bessere Beschleunigungswerte als das langbeinige Schönheitsideal des Reitpferdes.
Auch die Nervenstärke und die deutlich höhere Reizschwelle des Schweren Warmblüters, ebenfalls Auswirkungen des weitgehenden Verzichts auf Vollbluteinkreuzungen sind nicht nur im Fahrsport für Turnier und Freizeit gefragt, sondern auch bei Freizeitreitern, die mit geringeren Vorkenntnissen in der Lage sein wollen, ihr Pferd zu beherrschen.
Das, was einige hochnäsig als langweilig und dumpf verachten, ist in Wahrheit eine Form von Unkompliziertheit, die etliche Vorteile bietet. Schon vor 150 Jahren konstatierte der hannoversche Remontedirektor General William von Hassell, ein großer Verfechter der Vollbluteinkreuzung für die Remontezucht, das Hauptproblem der „neuen Züchtungs-Pricipien“ sei die Unfähigkeit der Bauernsöhne, der Knechte und der einfachen Kavalleristen, mit den sensibleren Halbblut-Pferden entsprechend sensibel umzugehen.
Eigene Leistungsprüfung – Reiten und Fahren
Trotz gleicher genetischer Grundlage werden die Schweren Warmblüter in der Systematik der FN als eigenständige Rasse bzw. Rassegruppe mit eigenem Zuchtprogramm behandelt, gemeinsam mit den Alt-Oldenburgern, Ostfriesen und Alt-Württembergern.
Dies hat mehrere Konsequenzen: zum einen sind die Schweren bei den Warendorfer Bundes-Championaten nicht zugelassen, da diese der Rassegruppe Deutsches Reitpferd bzw. Deutsches Reitpony vorbehalten sind. Zum anderen unterscheidet sich auch die Form der Leistungsprüfung.
Die Hengste der Schweren Warmblüter absolvieren einen 50-Tage-Test auf Station, bei dem die Kandidaten unter dem Sattel in Schritt, Trab und Galopp einschließlich Rittigkeit geprüft werden, allerdings nicht im Springen, weder beim Freispringen noch im Parcours.
Zweiter verpflichtender Prüfungsteil ist die Prüfung im Einspännergeschirr: eine dem Bundes-Championat für Fahrpferde ähnliche Einspänner-Dressuraufgabe, bei der Schritt und Trab sowie die Fahreignung beurteilt werden. Ergänzt wird diese Prüfung durch einen Zugwilligkeitstest, bei dem die Hengste 25% ihres individuellen Körpergewichts auf einem Zugschlitten über 200 Meter mit einer Wendung sowie mit dreimaligem Anhalten und Wiederanziehen bewegen müssen.
Zugwilligkeitstest
Dieser früher als Zugleistungsprüfung bezeichnete Test war bis Ende der 70er Jahre auch Bestandteil der HLP für Reitpferdehengste. Es mag archaisch klingen, aber viele Fachleute halten diese Prüfung immer noch für den besten Test auf Charakter und Leistungsbereitschaft. Hengste, die sich hier verweigern oder widersetzen, werden in aller Regel auch bei höheren Anforderungen unter dem Sattel, ganz gleich ob unter dem Spring- oder dem Dressursattel, ihren Dienst quittieren, wenn’s hart wird.
Bei der Bewertung dieses Prüfungsteils kommt es darauf an, dass die Pferde ruhig und gerade anziehen, also weder ins Geschirr springen noch seitlich vor der Zuglast ausweichen. Beim Halten sollen sie ebenfalls nicht zurückweichen, sondern „unter Last“ ruhig stehen bleiben. Die dabei erkennbaren Unterschiede, züchterisch kann man von Merkmalsvarianz sprechen, sind bei den modernen Schweren Warmblütern relativ gering. Trotzdem bleibt dieser Prüfungsteil für die Leistungsbeurteilung im Hinblick auf den Fahrsport von Bedeutung im Sinne einer zu fordernden Mindestleistung.
Zu guter Letzt: 1973 hatte Dr. Herta Steiner argumentiert, man müsse einige Schwere Warmblüter in Moritzburg behalten, um den enormen Zuchtfortschritt der modernen Reitpferderassen augenfälliger demonstrieren zu können. Ob Fortschritt oder nicht – ein Vergleich dieser beiden Zweige deutscher Pferdezucht lohnt noch immer. Und er bereichert nicht zuletzt auch für die nie endende Diskussion um erstrebenswerte bzw. zu meidende Exterieurmerkmale durch praktisches Anschauungsmaterial, so etwa zur Frage von Wohl und Wehe der Langbeinigkeit. Aber das ist schon wieder ein neues Thema …!
Rolf Schettler